Die Legenden am Fluss Biela

Mystik im Nebel des Bielatals

Viele Menschenalter nach dem Fall Saxnots, als die alten Götter der Sachsen unter dem Kreuz erstickt waren, wuchsen neue Sagen wie Efeu um die Flüsse und Wälder des Landes. In den Nebeln, die über der Biela wallten, hausten Geister vergangener Zeiten, und ihre Stimmen rauschten in den Wassern, als wollten sie nie verstummen.

Die Geister der Biela

Dort, wo der Wald das Tal umarmt und die Biela in sanften, doch unheimlichen Schleifen durch die Erde mäandert, erhebt sich der Reichstein, ein Felsen wie ein Wächter, der das Flussbett mit stummer Strenge überblickt. Am anderen Ufer kauert ein kleiner Ritterhof, einst Heim derer von Zinzendorf und Pottendorf, nun nur noch ein Echo verblasster Tage. Hier lebten einst zwei Schwestern, Edelfräuleins von zarter Gestalt, doch gefangen in der Einsamkeit ihres Lebens. Die ältere, von betörender Schönheit, trug ein Herz voll Hochmut. In ihrer Gier nach Unsterblichkeit wagte sie das Unsagbare: In einer mondhellen Nacht, am Ufer der Biela, opferte sie ein Stück reinen Leinens, mit finsteren Worten besprochen, und rief eine Macht herauf, älter als die Sterne.

Doch die Dunkelheit fordert stets ihren Tribut. Verflucht zur Weißen Frau, gefangen zwischen Sein und Nichtsein, wurde sie verdammt, ihre Wäsche im Fluss zu bleichen, jedes Stück zu zählen, bis die Ewigkeit selbst zerbricht. Ihre jüngere Schwester, die sie zu retten suchte, verschwand spurlos – man flüstert, ihre Seele sei in den Tiefen der Biela gefangen, wo das Wasser in dunklen Strudeln klagt.

Doch die Biela birgt ein noch älteres Geheimnis, ein Grauen, das in den Tiefen lauert: Eadric, der Mühlgeist, eine uralte Entität, weder Mensch noch Geist, sondern ein Schemen aus Schatten und Moder. Seine Augen glimmen wie glühende Kohlen, sein Lachen knirscht wie Mühlsteine, die Knochen zermalmen. In den Tiefen des Flusses, wo das alte Wehr die Strömung bricht und die Mühle längst zu Staub zerfiel, haust er, eifersüchtig über die Wasser wachend. Die Alten sprechen leise von ihm: Eadric, einst ein sächsischer Krieger, von Saxnot selbst auserkoren, einen Splitter der Irminsul zu hüten, gerettet vor den Äxten und Feuern der Franken im Jahr 772. In einer verborgenen Grotte am Rande der Biela ruht dieses Relikt, dessen smaragdgrüner Schein die Wasser durchdringt wie ein Fluch.

Wer es wagt, Eadric in die glühenden Augen zu blicken, wird von einem Fluch getroffen, der das Herz mit unstillbarer Traurigkeit füllt, sodass das Leben zur Bürde wird, getränkt von Melancholie und Verlust. Er duldet keinen, der seinen Fluss stört, und man sagt, er sei der Wächter der Weißen Frau, ihr Peiniger und Hüter zugleich, der jeden verdammt, der ihre Buße kreuzt.


Das zertretene Leinen

In mondhellen Nächten, wenn der Vollmond die Wiesen am Ufer in silbernes Licht taucht und Nebel wie Geister aus der Biela steigen, wandelt die Weiße Frau. Ihr Linnengewand schimmert, ein schlichter Gürtel hält es an ihrer Hüfte, und sie bleicht ihre Wäsche im Fluss, das Wasser sorgsam über die Leinen gießend. Mit leiser, zitternder Stimme zählt sie jedes Stück, als hinge ihr Seelenheil daran, und ihre Augen funkeln wie Tautropfen, die im Mondschein weinen.

Einst, in solch einer Nacht schlich ein schalkhaft loses Mädchen schwankend, leichtfertig und vom Tanz in der Schenke beschwingt, barfuß am Ufer entlang. Unachtsam trat sie auf die Leinen der Weißen Frau, die im Mondlicht ausgebreitet lagen. Ein klagender Schrei zerriss die Stille: „Ein Stück fehlt! Ein Stück fehlt!“

Das Mädchen wollte fliehen, doch ihre Füße erstarrten, als ein eiskalter Hauch ihren Nacken streifte. Sie wandte sich um und blickte in das Antlitz der Weißen Frau, jungfräulich und doch unendlich traurig, deren Augen vorwurfsvoll glommen. „Warum störst du die Bleicherin im Mondlicht?“ flüsterte sie. „Sieh, sieben Jahre muss ich nun spinnen, weil du mein Leinen befleckt hast! Zur Strafe blicke dorthin!“ Ihr Finger wies zur alten Brücke am Reichstein.Doch ehe das Mädchen gehorchen konnte, erbebte die Biela. Ein Grollen, tief wie das Stöhnen der Erde, stieg aus dem Fluss, und das Wasser teilte sich.

Eadric erwacht, ein Schemen aus Schlamm und Schatten, seine glühenden Augen wie Feuer in der Nacht. „Wer wagt es, meinen Fluss zu schänden?“ knurrte er, seine Stimme wie das Mahlen von Steinen. Das Mädchen starrte in die Grotte unter der Brücke, wo ein unheimlicher Schein aufflackerte. Dort saß Eadric an einem Tisch aus morschem Holz, umgeben von den Gebeinen alter Mühlräder, und hob eine Hand, von der Wasser wie Pech troff. Vor Entsetzen wich das Mädchen zurück, erst unfähig, den Blick zu wenden und konnte sich im letzten Augenblick gerade noch vor dem leuchten seiner glühenden Augen verwehren. Wer die Biela stört, so heißt es, weckt den Zorn des Mühlgeists, der die Wasser als sein Eigen beansprucht und die Weiße Frau in ihrer ewigen Buße bewacht. Von Eadics Zorn verflucht, trägt das Herz eine unstillbare Melancholie, die das Leben in düsteren Schleiern aus Trauer und Verlust hüllt. Seit jener Nacht wagte sie nie wieder, die Biela zu stören, und schwor ihrem sorglosen Leben ab.

Andere schwören immer wieder, die Weiße Frau auf dem Fluss gesehen zu haben, wie sie Flachs zu Garn spann, während Eadrics Augen aus den Tiefen glühten, wachsam die Ufer beobachtend und ein knarrendes Flüstern raunt, ein Klang wie brechendes Holz: „Stör mich nicht, oder du zahlst den Preis!“ In stillen Nächten, wenn der Wind durch die Wälder flüstert, hört man gelegentlich das Klagen der Bleicherin und das Knirschen von Eadrics Lachen.